Denn ich fresse nicht nur Jungfrauen!

Sonntag, 20. November 2016

Rezension: Bonsai von Christine Nöstlinger (Adoleszensroman)

Posts, die »Adoleszensroman« im Titel tragen, beziehen sich auf den Inhalt meines Seminars an der Uni und sind weniger Rezensionen als eher Besprechungen des jeweiligen Romans.

Christine Nöstlingers »Bonsai« erzählt die Geschichte des Jungen Sebastian. Er ist Fünfzehn, aber dennoch kleiner als das kleinste Mädchen der Klasse. Außerdem weiß er zwar eine ganze Menge, nur eines noch nicht: Wie es um ihn und seine Sexualität bestellt ist. Er beschließt sich zu verlieben, und seine Kusine Eva-Maria soll ihm dabei behilflich sein. 


Der Roman ist mit einem frischen Witz erzählt, der dadurch gleichzeitig das Wiener Großbürgertum ein wenig auf’s Korn nimmt. Sebastian ist ein altkluger Junge, der oft gewichtig daherredet, aber nicht immer so ganz versteht, was er da eigentlich erzählt. Das führt mitunter zu recht komischen Situationen, in denen er beispielsweise die Philosophie mit der Gärtnerei verwechselt und beides für ein und dasselbe hält. Auch lebt der Humor des Buches von Situationskomik, beispielsweise als Sebastian den Männerstrich auf einem Straßenklo sucht und Eva-Maria ihm hinterher ganz trocken erzählt, was sie in einiger Entfernung unter den Bäumen beobachtet hat. Das zeugt von seiner Naivität, die er jedoch durch seine Großmäuligkeit zu überspielen versucht. Mitunter reichen Humor und Komik bis hin zur Drastik.

Sebastian ist in seinem Alltag fast nur von Frauen umgeben: seine Mutter, die Tante und deren Tochter Eva-Maria. Dadurch fehlt ihm eine männliche Identifikationsfigur, auch wenn er sagt, dass er seinen Vater nicht vermisst und »die Alleinerzieherin«, wie er seine Mutter immer nennt, dessen Rolle gut erfüllt. Sie selbst nimmt ihn jedoch mehr oder weniger als Partnerersatz und erzählt ihm vieles aus ihrem Leben, dass eine Mutter klassischerweise nicht erzählen würde. Damit werden die klassischen Rollenbilder einer Familie aufgebrochen und durch plurale Familienverhältnisse ersetzt; die Patchworkfamilie wird salonfähig.

Das Verhältnis von Mutter und Sohn ist durch tägliche Streits geprägt, Sebastian scheint das sogar zu brauchen, da es für ihn eine Art Wettbewerb ist. Trotzdem herrscht eine gesunde Kommunikation zwischen beiden, die Mutter setzt sich für ihn ein und verteidigt ihn. Sie ist sich gegenüber sehr kritisch und streng und befürchtet, eine schlechte Mutter zu sein. Durchaus als fortschrittlich ist zu bezeichnen, dass sie sogar den Rat eines befreundeten Psychologen sucht.

Sebastian reagiert vor allem auf Dinge und ist nicht unbedingt der kluge Kopf, für den er sich selbst hält. Selbst die Suche nach seiner Sexualität wird überhaupt erst angestoßen, als seine Mutter sich Sorgen macht, er könne schwul sein, weil er spaßeshalber ein Kleid seiner Kusine angezogen hatte. In der Suche selbst agiert er jedoch ausnahmsweise selbst.

Dadurch, dass Sebastian sich so klug gibt und in gehobenerer Sprache spricht, ist er von den anderen aus dem Klassenverband mehr oder weniger ausgeschlossen. Seine sozialen Kontakte sind daher stark beschränkt, vor allem auf Eva-Maria und die Pribils.

Am Ende des Buches, sprichwörtlich in den letzten Wörtern, wird deutlich, dass Sebastian eventuell über seine Geschichte geflunkert haben könnte, es wird jedoch nicht klar, inwiefern. Er nimmt Bezug auf die verschiedenfarbigen Tagebücher seiner Kusine, in denen sie unterschiedliche Versionen der von Sebastian wiedergegebenen Ereignisse niedergeschrieben hat. Er gibt an, dass er noch weitere verschiedenfarbige Bücher hätte schreiben können mit zahlreichen anderslautenden Wahrheiten über ihn.

Der Schluss des Romans ist in jedem Fall sehr gelungen und lässt den Leser auch nach Beenden der Lektüre darüber nachsinnen, was Sebastian nun erfunden, etwas großzügig ausgelegt oder seiner Wahrnehmung entsprechend wiedergegeben haben könnte. Auch die Komik der Erzählung hat einen gewissen Reiz. Insgesamt gelingt es der Autorin gut, sich in die Gefühlswelt eines Heranwachsenden hineinzuversetzen und seine Probleme und Sorgen dem Leser nahe zu bringen.
  


Autor: Christine Nöstlinger
Titel: Bonsai
Original: Bonsai
Sprache: Deutsch
Reihe: Nein
Seiten: 248
Originalpreis: 14.90 DM
Verlag: Beltz & Gelbert
Genre: Jugendroman
ISBN: 3-407-78821-5
Erscheinungsjahr: 2000

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Die Kommentarfunktion auf dem Blog ist abgestellt, um Spam zu vermeiden, aber auch, weil ich all der relativierenden "Ja, aber ...!"-Kommentare müde wurde, die sich mehr und mehr häuften, besonders bei Posts, die keine reinen Rezensionen waren. Ihr könnt mich immer noch über Twitter erreichen.

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.