Denn ich fresse nicht nur Jungfrauen!

Montag, 19. Juli 2021

Rezension: Shape Me von Melanie Vogltanz

© und Quelle: Verlag

Fatshaming, Skinnyshaming, Bodypositivity, Body acceptance und so weiter und so fort. In unserer heutigen Zeit sind unsere Körper und deren Form viel diskutierte Objekte. Die Abnehmindustrie boomt, an allen Ecken und Enden prangen uns normschöne Körper von Werbeplakaten entgegen und Influencer nutzen jeden nur erdenklichen Trick, um ihre Dehnungsstreifen und Cellulite vor der Kamera zu verbergen. Das kann mitunter extreme Züge annehmen. Melanie Vogltanz hat diesen Gedanken in ihrem Roman „Shape Me“ jedoch noch weiter gedacht und eine Gesellschaft entworfen, in der Kalorien zur Währung werden.

Tess arbeitet als Trainerin bei der SHAPE ME Corporation. Mittels einer neuartigen Technologie können zwei Menschen die Körper tauschen, und Tess’ Aufgabe ist es, die Körper ihrer Kund*innen wieder in Form zu bringen. Dann jedoch wird das dazu benötigte Gerät aus der Firma gestohlen und die Probleme beginnen. Etwa zur gleichen Zeit muss Nena erfahren, was es in diesem System heißt, keine ID mehr zu haben. Urplötzlich funktioniert ihr Chip nicht mehr, womit sie sich nicht ausweisen und damit auch nicht einmal mehr essen kaufen kann. Denn damit kann sie ihre Gewichtsklasse nicht mehr nachweisen und damit auch nicht die Kalorien, die ihr täglich zustehen. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als um Essen zu betteln und Mülltonnen zu durchwühlen. Und dann geschieht auch noch das Undenkbare: Ihr Körper wird gestohlen.


„Dann sollen sie doch Kuchen essen!“, rufen die linken Protestanten des Romans, die vor der SHAPE ME Corporation gegen die Firma und für eine Umwälzung des ganzen Systems protestieren. Wir sind es gewohnt, über unsere Körper selbst bestimmen zu können. Wir können selbst bestimmen, wie viel oder wie wenig und vor allem was wir essen. Das können die Menschen in Tess’ und Nenas Welt nicht. Ihnen wird das alles diktiert und je nachdem, in welche Gewichtsklasse sie fallen, welchen Beruf sie haben oder wie viele körperliche Aktivitäten sie betreiben, haben sie ein höheres oder niedrigeres Kaloriensaldo. Selbst Katzenfutter fällt da mit hinein. Nena hat zwei Katzen zu versorgen und deren Futter muss sie von ihrem eigenen Saldo abziehen.

Melanie Vogltanz hat während des Schreibens selbst ausprobiert, wie es ist, mit einem Kaloriensaldo von 600 bis 700 Kilokalorien pro Tag zu leben. Wer einmal darauf geachtet hat, wie viel man eigentlich isst, weiß, dass das quasi nichts ist. (Das ist übrigens nicht zur Nachahmung empfohlen, man sollte sehr genau darauf achten, welche Nährstoffe man dem Körper zuführt, wenn man die Energiezufuhr so drastisch reduziert.) Umso eindrücklicher erscheinen die Schilderungen im Roman, als Nena selbst von ihrem letzten bisschen noch etwas für ihre verhungernden Katzen abzwackt.

Während des Lesens dachte ich einige Male, dass da hin und wieder „Fettlogik überwinden“ von Dr. Nadja Herrmann (aka Erzählmirnix) anklingt und tatsächlich wird dieses Buch auch im Nachwort erwähnt. Es ist also durchaus empfehlenswert, beide Texte nebeneinander zu lesen, wenn man sich näher mit der Thematik Gewicht befassen will.

Über unsere Körper haben wir weitestgehende Autonomie, es gibt das Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Umso krasser erscheint, was Tess und vor allem Nena durchleben, besonders als Nena mit dem Körperraub ultimativ die Kontrolle über ihren Körper verliert. Plötzlich ist sie der Täterin hilflos ausgeliefert und muss mit einem schwer kranken Körper zurechtkommen. Denn die Person, die ihren Körper stahl, ist an Multipler Sklerose erkrankt.

Hier wirft Melanie auch die Frage auf, ob es denn in solch einem Fall gerechtfertigt sei, sich als chronisch kranke Person einen gesunden Körper anzueignen. Ist es fair, die eigene Mutter an MS sterben zu sehen und dann selbst daran zu erkranken? Nein, auf keinen Fall. Ist es da gerechtfertigt, den Körper mit einer gesunden Person zu tauschen? Nena wurde dafür ganz zufällig ausgewählt, ein Würfelwurf entschied, dass sie das Opfer werden sollte. Ebenso willkürlich trifft es auch Menschen, die an einer chronischen Erkrankung leiden. Ob das nun gerechtfertigt ist oder nicht, muss jede*r für sich entscheiden. Nena und ihre Körperdiebin jedenfalls haben beide ihre Antworten auf die Frage, ob die Tat gerechtfertigt war, und es sind gute Argumente.

Tess’ Rolle in der Geschichte besteht hauptsächlich darin, die Gewinnerseite des Systems darzustellen, und das tut sie gut und eindrücklich. Sie übernimmt die Körper adipöser Kund*innen, um sie wieder in Form zu bringen, und denkt dabei nicht gerade freundlich über Menschen, die von der Normkörperform abweichen. Tess hat erlebt, mit welchem Stigma sogenannte Foodjunkies bedacht werden, und wollte dieses Erlebnis um jeden Preis hinter sich lassen.

Viel mehr macht sie aber tatsächlich nicht in der Handlung. Der Haupthandlungsträger ist Nena, und Nena ist auch diejenige mit der weitaus spannenderen Geschichte. Tess’ Perspektive war nett, um zu sehen, wie die vermeidliche Gewinnerseite des Systems aussieht, aber was mich den Roman an einem Abend durchlesen lies, was Nenas Geschichte. Denn ja, ich las den Roman an einem Abend, da er sich flott wegliest und Melanie Vogltanz’ Erzählweise definitiv etwas Fesselndes hat.

Ebenso nicht ganz so zufrieden war ich mit dem Komplizen der Körperdiebin. An der Stelle will ich keine Namen nennen, um nicht zu spoilern. Seine Motive habe ich nicht gänzlich nachvollziehen können. Er spielt jedoch nur eine kleine Rolle.

Shape Me ist ein fesselnder Roman, der sich mit körperlicher Autonomie befasst und zum Nachdenken anregt. Lediglich Tess hätte etwas mehr zur Handlung beitragen können, so ist es vor allem Nenas Perspektive, die die Spannung trägt. Der Roman liest sich rasch weg und bietet kurzweilige Unterhaltung.

Mögliche Trigger

- fatshaming

- Unterernährung

- Hunger

- Blut

- Tod, Mord, Gewalt an Menschen


Werbung nach §6 TMG

Reiheninformation

Autor*in: Melanie Vogltanz

Titel: Shape Me

Sprache: Deutsch

Umschlagsgestaltung: Verlag ohneohren

Reihe: Nein

Seiten: 288

Originalpreis: 1,99€

Verlag: ohneohren

Genre: Dystopie

ASIN: B07WH5YYM3

Erscheinungsjahr: 2019

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