Denn ich fresse nicht nur Jungfrauen!

Sonntag, 15. Januar 2023

Rezension: Identitti von Mithu Sanyal

»Identität bestimmt nicht die Dinge, die wir tun, wohl aber die Dinge, die andere Menschen uns antun.« (S. 410)

Es gibt sie noch, die Romane, die das eigene Weltbild völlig auf den Kopf stellen. »Identitti« von Mithu Sanyal ist ein solcher. Gleich, nachdem ich den Roman ausgelesen hatte, was ich zum PC gehechtet, um diese Zeilen hier zu tippen, um das Gefühl, das der Roman in mir erzeugt hat, nicht zu verlieren. Er arbeitet in mir, seit Tagen schon. Die Geschichte hat ein Themenfeld für mich geöffnet, das völlig konträr zu dem steht, was ich bis dato annahm.

Skandal! Die berühmte Professorin Saraswati ist in Wahrheit weiß und hat allen ihre indische Identität nur vorgelogen. Ist es überhaupt eine Lüge? Ihre Studentin Nivedita jedenfalls ist schockiert über die Enthüllung, sie fühlt sich betrogen und hintergangen. Sofort begibt sie sich zu ihrer Professorin, um Antworten zu erlangen. Antworten auf die Frage, warum Saraswati getan hat, was sie getan hat, aber auch, um sich selbst und ihre verworrene Identität zu finden.

Nivedita ist die Protagonistin des Romans und gleichzeitig kann ihre Geschichte nicht ohne Saraswati erzählt werden. Niveditas Mutter stammt aus Polen, ihr Vater aus Indien, sie selbst ist in Deutschland groß geworden. Ist sie nun Polin, Inderin, Deutsche? Ihr Leben lang sucht Nivedita Bestätigung von außen, stülpt sich Identitäten anderer über wie andere Kleidung anlegen. Erst geschah das in Form ihrer Cousine Priti, die in England in einer starken indischen Community groß wurde, später dann mit ihrer Professorin Saraswati, die an der Universität Düsseldorf Postcolonial Studies lehrt.

Der Roman geht ein hochsensibles und hitzig diskutiertes Themenfeld an: Identität und Identitätspolitik, und gleichzeitig verpackt er das Thema witzig und flott zu lesen. Mich hatte der Stil von Anfang an gepackt und alsbald auch die Thematik. Die Erzählung fokussiert sich stark auf den intellektuellen Diskurs, ohne diesen jedoch mit Wissenschaftssprech zu überladen.

Was mich persönlich jedoch am meisten bewegt, sind die Fragen, die hier eröffnet werden: Wenn Kategorien wie race und gender nur soziale Konstrukte sind, was macht dann unsere Identität aus? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Identität, kultureller Aneignung und blackfacing? Was macht uns zu uns?

Der Roman liefert keine klaren Antworten, denn auf diese Fragen gibt es keine klaren Antworten. Er liefert aber jede Menge Stoff, um darüber nachzudenken.

Interessant ist auch, wie der Roman gestaltet ist. Er ist eine Collage aus unterschiedlichsten Medien: klassischer Erzähltext, Transkripte von Radiobeiträgen, Zeitungskolumnen, Tweets, Instagramposts und so weiter. Beinahe so, wie auch das wirkliche Leben eine Collage aus unterschiedlichsten Aspekten ist. Die Autorin bat für viele dieser Beiträge tatsächliche Personen, etwas dazu beizusteuern. Sie schilderte ihnen den Kontext ihres Romans und bat sie, ebenso spontan einen Tweet zu verfassen, wie sie es tun würden, wenn sie von einem Fall wie den Saraswatis lesen würden. Und den gab es tatsächlich. 2015 wurde Rachel Dolezal von der Presse als weiß geoutet, welche bis dahin als Schwarze lebte (anders als Saraswati, deren Identität POC ist). Der Fall inspirierte Sanyal zu ihrem Roman.

»Identitti« ist trotz allem fiktional, obwohl reale Personen auftreten und auch alle genannten Orte tatsächlich existieren. Die Fragen, die der Roman aufwirft, werden dadurch aber nicht geschmälert, haben sie doch einen allzu realen Einfluss auf unser aller Leben.

Wenn race genau wie gender nur konstruiert ist, warum soll es dann bei gender in Ordnung sein, den eigenen Körper hormonell und operativ der Identität anzupassen, bei race aber nicht? Wo ist da der Unterschied? Die Frage hat mich von Anfang an beschäftigt. Eine klare Antwort habe ich noch nicht, aber ich bin fasziniert von dieser Frage. Vielleicht bedarf es auch gar keiner klaren Antwort. Ich habe jedenfalls gelernt, dass es den Begriff transracial gibt, der das beschreibt, was Saraswati lebt.

Bei meiner Suche nach Antworten im Roman bemerkte ich interessiert, wie die Charaktere den Diskurs darum führen. Saraswatis Gegner sind empört. Sie werfen ihr kulturelle Aneignung, Rassismus und blackfacing vor. Saraswati stellt ihnen zahlreiche Argumente entgegen. Während ihre Gegner aber nur Phrasen dreschen, kann Saraswati ihnen ruhig und besonnen (wenn auch hin und wieder etwas populistisch und effekthaschend inszeniert) ganze Vorträge halten, um zu begründen, warum sie tat, was sie tat, und bringt dabei gut fundierte Argumente und zahlreiche Querverweise auf Fachliteratur an. Besonders aufmerken ließ mich eine ganz bestimmte Stelle:

„»Willst du dann als nächstes behaupten, du seist Aborigine, wenn man alles austauschen kann?«, höhnte Oluchis Freund.“ (S. 244)

Als ich das erste Mal davon hörte, dass man anscheinend tatsächlich körperliche Merkmale so verändern kann, dass ein Passing als transracial (cisracial?) möglich ist, war ich verwirrt. Race war für mich bis dahin etwas Inhärentes, etwas, womit man geboren ist und das nicht veränderlich ist. Ich kann nicht plötzlich Schwarz sein, ich bin schließlich weiß.

Aber dasselbe trifft auch auf gender zu. Ich habe das gender, das ich habe, mir wurde lediglich bei der Geburt ein anderes zugewiesen. Das, was Oluchis Freund hier sagt, ist eins zu eins TERF-Rhetorik, nur auf race statt gender bezogen. Race als Kategorie wurde künstlich erschaffen. Race ist nicht an körperliche Merkmale geknüpft, race hat keine biologische Grundlage, Oppressoren nutzen jedoch körperliche Merkmale, um ihre Theorien zu untermauern. Dasselbe passierte mit der Kategorie gender.

Vielleicht war spätestens das der Moment, der mich umdenken ließ. Sanyal erwähnt im Nachwort zum Roman den Fachtext »trans. Gender and Race in an Age of Unsettled Identities« von Roger Burbaker. Ich kam leider noch nicht dazu hineinzulesen, aber auch dieser Text scheint die Kategorien race und gender in Beziehung zueinander zu setzen. Klingt also nach einer lohnenswerten weiterführenden Lektüre.

Eine einzige Kritik habe ich jedoch. Gerade weil der Roman race und gender als Kategorien miteinander in Verbindung setzt, hätte ich erwartet, dass mit gender genauso sensitiv umgegangen wird wie mit race. Das ist aber nicht immer der Fall. Der Roman ist durchgängig gegendert, ein Bewusstsein für die Thematik liegt also vor. Es tritt tatsächlich auch eine genderqueere cis Frau auf. Nivedita ist bei ihrem Auftreten zunächst verwirrt, ob Toni nun Mann oder Frau ist, gendert sie dann aber dennoch anhand körperlicher Merkmale, bevor sie Toni nach ihren Pronomen fragt. Ich denke, ein gendersensitives Sensitivity Reading hätte hier noch ein wenig nachbessern können.

Ich weiß nicht, ob diese Gesellschaft schon bereit für die Diskussionen ist, die der Roman aufmacht, es wäre aber schön, wenn sie es wäre. Der Roman ist auf jeden Fall eine gute und wichtige laute Stimme dazu.

»Zu sagen, nur gender kann wirklich trans sein, ist dasselbe wie der Versuch, echte Wissenschaft  von … anderen Formen von Wissensherstellung zu unterscheiden, hohe von niedriger Kunst, Kunst von Handwerk.« (S. 243)

Mögliche Trigger

- Rassismuserfahrungen

- rassistische Übergriffe

- Terroranschlag von Hanau wird thematisiert

- toxische Beziehung

 

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Reiheninformation

Autor*in: Mithu Sanyal

Titel: Identitti

Sprache: Deutsch

Umschlagsillustration: Raja Ravi Varma: Kali, vor 1906

Reihe: Nein

Seiten: 424

Originalpreis: 22€

Verlag: Carl Hanser Verlag

Genre: Fiction

ISBN: 978-3-446-26921-7

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