Denn ich fresse nicht nur Jungfrauen!

Freitag, 7. April 2023

Die Konstruktion von gender in Kim de L’Horizons Blutbuch

Vorbemerkung: Der nachfolgende Text ist ursprünglich eine Seminararbeit, die allerdings thematisch gut auf den Blog passte.

1. Einleitung

2022 gewann Kim de L’Horizons Debütroman Blutbuch den Deutschen Bruchpreis – welcher damit erstmals an eine nichtbinäre Person ging, ein bedeutendes Zeichen für mehr Diversität auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Wie so häufig dieser Tage bei nicht-cis Personen löste das Buch eine mediale Debatte um das Geschlecht Kims aus, leider nur nicht auf literarischer Ebene. Dabei ist es interessant zu betrachten, wie in den Roman der abstrakte Begriff gender konstruiert wird und welche Mittel Kim de L’Horizon dafür zur Hilfe nimmt, um etwas Abstraktes greifbarer zu machen. Deswegen möchte ich mich hier auch näher damit auseinandersetzen.

 

2. Genre

Der Roman verortet sich in der Autofiktion. Festmachen lässt sich das unter anderem am Paratext des Romans, in dem es heißt, Kim sei 2666 auf Gethen geboren. Gethen ist dabei eine Anspielung auf den Schauplatz des Romans Die Linke Hand der Dunkelheit von Urusula K. Le Guin und das Jahr 2666 eine Anspielung auf dem gleichnamigen Roman von Roberto Bolaño. Auch liegen mitunter verfremdende Dialoge vor, so zum Beispiel der Dialog des Kindes mit der Blutbuche unter anderem auf Seite 76 und 93f. Dort heißt es unter anderem, dass die Blutbuche das Blut des Kindes „trinkt“, eine Personifikation des Baumes. Direkt darauf spricht die Buche und eine Wurzel bewegt sich scheinbar autonom.

Teils wird das Genre sogar direkt angesprochen; so diskutiert Kim beispielsweise, was so inhärent queer an Autofiktion sei: „to start writing from a reality that repeats the fiction that we don’t exist. To start writing from a reality that isn’t real to us, that puts us in the realm of fiction.” (de L’Horizon 2022: 270) Die allocisheteronormative Gesellschaft behandelt queere Identitäten und besonders all jene gender, die unter den nichtbinären Oberbegriff fallen, noch immer nicht als real, begegnet ihnen gar oft mit Feindseligkeit; um das zu sehen, reicht ein Blick in die Rezensionen auf Amazon zu Blutbuch, in denen Kim de L‘Horizons Identität als ausgedacht und geisteskrank und allerlei andere entwürdigende Dinge bezeichnet wird. Ein autofiktionales Werk zu schreiben, drückt also den Wunsch aus, eine alternative Realität zu erschaffen, in der queere Menschen als die Menschen existieren dürfen, die sie sind, eben weil Fiktion derzeit die einzige Welt ist, in der sie existieren dürfen. Es ist vielleicht der urtümlichste Wunsch von allein: einfach in Frieden zu leben.

 

3. Die Verwendung von Sprache im Roman

Der gesamte Roman kann als Versuch beschrieben werden, zu sich selbst zu finden, und das Mittel der Wahl ist für Kim die Sprache. Sprache wird immer wieder im Roman thematisiert. Kim stammt eigentlich aus Ostermundigen im Schweizer Kanton Bern und dementsprechend ist deren[1] Muttersprache das Berndeutsche, die Meersprache, wie es in diesem Dialekt heißt. Überwiegend ist der Roman im Standarddeutschen geschrieben, immer wieder werden auch einzelne Begriffe oder Phrasen des Berndeutschen eingestreut, über die Kim auch reflektiert. Der Roman selbst ist in fünf Teile aufgegliedert und auffällig daran ist, dass der fünfte Teil durchgängig in Englisch verfasst ist. Kim begründet dies folgendermaßen: „And that’s why still, after four parts of this text, it wasn’t enough for me. There were still things I could not say in German.“ (de L’Horizon 2022: 270) Englisch fungiert hier als eine zusätzliche Barriere, um Abstand zwischen sich und der Herkunftsfamilie zu schaffen, gleichzeitig reflektiert Kim auch immer wieder, wie sehr Sprache einen deutlichen Klassenunterschied zwischen dem erzählenden Ich und der Herkunftsfamilie schafft.

Die Mutter kommt sich neben Kim „dumm“ und „ungebildet“ vor (de L’Horizon 2022: 190), da Kim zahlreiche Wörter kenne, die ihr unbekannt seien. Über den Status des Standarddeutschen in der Schweiz schreibt Kim: „Wie für viele Schweizer*innen ist für sie [die Mutter] das Hochdeutsche das Vornehme, Gehobene, die Schul- und Bildungssprache, keine Fremd-, aber eine fremde Sprache.“ (de L’Horizon 2022: 198) Standard zu sprechen und zu schreiben, ist also ein distinktives Merkmal einer gebildeten und in diesem Sinne gehobenen Schicht, die Kim klar von der Herkunftsfamilie trennt. Kim reflektiert darüber: „Mir fiel erst Jahre später auf, dass es eine sonderbare Konkurrenz gab zwischen mir und ihr [der Mutter]. Dass ich nicht für sie studiert habe, sondern anstelle von ihr.“ (de L’Horizon 2022: 190) Als die Mutter mit Kim schwanger wurde, musste sie die Matur auf zweitem Bildungsweg abbrechen, da sie das Kind austragen wollte. Kim selbst hat einen Hochschulabschluss, der Kim deutlich in einer anderen sozialen Schicht verankert als die Herkunftsfamilie, welche bürgerlich-bäuerliche Ursprünge hat. Den kompletten 5. Teil des Romans in Englisch zu schreiben, unterstreicht das noch einmal sehr deutlich, da es nicht nur eine andere Varietät des Deutschen, sondern eine komplett fremde Sprache ist, die deutliche Distanz schafft. Aber nur so ist es Kim möglich, gewisse Dinge zu sagen.

Dennoch spielt auch das Berndeutsche, Kims Meersprache und die Sprache der Herkunftsfamilie, eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung mit der Herkunft des erzählenden Ichs. Kim reflektiert dazu folgendermaßen: 

„Ich bin kein*e Sprachpurist*in, will kein Sprachzerfallbuhu. Ich will diese Wörter nur bewahren, weil sie von dir [der Großmutter] kommen, weil sie aus dir gekommen sind, auf Spinnenbeinchen aus deinem Mund getreten sind und in mich geschnaakt sind, flitz hopps schwupps. […] Sie waren in dir und mit ihnen konntest du dir etwas von deinem Eigenen sagen, fassen, bezeichnen. Und Meer und mir geht es gleich; deshalb benutzen wir diese Wörter noch. […] Ich bin dir nie näher als dort, wo ich in diesen Wörtern bin.“ (de L’Horizon 2022: 229)

Damit wird deutlich, dass Sprache nicht nur eine Distanz schafft, die es möglich macht, schwierige Dinge auszusprechen, sondern gleichzeitig auch Nähe erzeugt und damit eine Verbundenheit. Kim ist sich der Widersprüchlichkeit bewusst, gleichzeitig Nähe und Distanz zur Herkunftsfamilie zu wollen, und dies spiegelt sich deutlich im Sprachgebrauch wieder.

 

4. Sexualität, Körperlichkeit & gender

Inhaltlich setzt sich der Text, wie bereits deutlich geworden, mit der Herkunft der fiktiven Kunstfigur Kim auseinander, wir haben einen autodiegetischen Erzähltyp und eine anachronistisch aufgebaute Erzählung besonders in den ersten beiden Teilen. Die Handlung des dritten Teils ist chronologischer erzählt, jedoch immer wieder unterbrochen durch Rückblenden in Form von Erinnerungsfetzen und Dialogen. Formal lässt sich weiterhin ein Wechsel der Tempora feststellen und ein regelrechtes Spiel mit Parataxte und Hypotaxe, das sich teils in die Extrema beider Richtungen steigert. Am augenfälligsten wird dies in der Waldravesexszene, dem dramatischen Höhepunkt des dritten Teils des Romans beginnend auf Seite 159.

Die Szene steigt ein mit einer Referenz auf den Akt des Schreibens: „Ich sitze jetzt immer noch, das heisst wieder, innerlich ununterbrochen im selben Medikamentenrausch auf meiner Couch-Scholle treibend, und ich lege noch rasch ein Dafalgan nach.“ (de L’Horizon 2022: 159) Die Sätze werden lang und länger, je mehr die Szene voranschreitet, und schließlich zerfallen sie vollkommen, als die Satzzeichen wegfallen, im selben Maße, wie das erzählende Ich immer mehr zerfällt und der Sex mit dem Partner alle oberflächlichen Schichten herabreißt und das tiefste Innere offenbart, all das Rohe und Verborgene, das bis dahin lieber versteckt gehalten wurde. Konkret heißt dies, dass sich das schreibende Ich in dieser Szene mit internalisiertem Rassismus auseinandersetzt, als es den Partner während des Sex rassistisch beleidigt und daraus einen Lustgewinn zieht.

Sex und Körperlichkeit spielen eine große thematische Rolle, die sich durch den gesamten Roman ziehen. Immer wieder thematisiert Kim beides, um mittels dieser Themenfelder über gender zu reflektieren. Ich benutze hier das Englische gender (Geschlecht), um es klar vom Englischen sex (was ebenfalls Geschlecht bedeuten kann) abzugrenzen und um deutlich zu machen, dass es hier um das soziale Konstrukt Geschlecht geht, das in keiner Weise in irgendwelchen biologischen Merkmalen verankert ist. Gleichzeitig leben wir in einer Gesellschaft, die trotz allem gender vermeidlich an körperlichen Merkmalen festmacht; mitunter einer der Gründe für Transitionen und geschlechtsangleichende Maßnahmen.

Auch Kim ist sich dieses scheinbaren Widerspruchs bewusst und spricht oft und offen darüber, um einen Umgang damit zu finden und damit vielleicht auch zu einer eigenen Identität zu finden. Eines der vielleicht auffälligsten sprachlichen Mittel, um dieser Thematik eine Form zu geben (oder der Versuch dessen), ist die vollkommen entgenderte Kindheit. Immer, wenn das erzählende Ich auf die Kindheit zu sprechen kommt, ist es nicht mehr „ich“, sondern „das Kind“. Dem Kind wird kein gender zugeschrieben, es wird sogar von anderen Kindern gehänselt, ob es denn nun ein Junge oder Mädchen sei, was eine Form von Transfeindlichkeit darstellt. Erst mit der einsetzenden Pubertät erhält das Kind ein gender und “wird ein er” (de L’Horizon 2022: 45). Ebenso auffällig ist die entgenderte Sprache, die im Roman verwendet wird. Der Asterisk, das sogenannte Gendersternchen, kommt häufig zum Einsatz, es ist von „niemensch“ statt „niemand“, „mensch“ statt „man“ sowie dem Grosskind die Rede.

Formal schlägt sich das in einem sehr zerfaserten Schreiben wieder. Die Sätze wechseln zwischen Parataxe und Hypotaxe, teils sind die Sätze regelrecht zerhackt. Oftmals springt das erzählende Ich von einem Thema zum anderen und greift viele Seiten später erneut ein bereits angerissenes Thema wieder auf. Dies ist ein Ausdruck für das nichtbinäre gender des erzählenden Ichs, das quasi zwischen den binären Polen der Körpersprache, bestehend aus Sexualität und Körperlichkeit, steht. In Kims eigenen Worten: 

 

„Vielleicht ist das der Grund [...] für dieses zerstückelte, zerbrösmelnde Schreiben. [...] Vielleicht ist dieses Schreiben die Suche nach einer Fremdsprache in den Wörtern, die zur Verfügung stehen.“ (de L’Horizon 2022: 58)

Kim ist sich der schmerzlichen Realität bewusst, in einer Sprache zu schreiben, die nur Binarität kennt, in der es keine Worte für Personen wie Kim gibt, da die Sprache davon ausgeht, es gäbe nur zwei gender, nämlich Mann und Frau. Der gesamte Roman ist ein Versuch, dennoch eine Sprache zu finden, und Kim versucht dies über die Körpersprache. Das Kind versucht zunächst die Meer, dann den Peer und deren Körpersprachen zu imitieren, kann sich aber nicht wirklich einem der beiden binären Pole zuordnen (vgl. de L’Horizon 2022: 58). Schnell wird dem Kind klar, dass diese Gesellschaft, in der es lebt, keine Genderexpression kennt, in der nichtbinäre Körper vorgesehen sind. Kim nennt das den „Binaritäts-Faschismus der Körpersprachen“ (de L’Horizon 2022:  58), das krampfhafte und erzwungene Beharren auf einer Binarität, die sich in der Wirklichkeit nicht wiederfinden lässt. Kim steigert das noch weiter, dey nennt es nicht nur Faschismus, sondern regelrecht monströs, wie die Gesellschaft gender auf Körper projiziert: „[D]as Monströse an diesem Körper war, dass das nie einfach eine Form war, um in dieser Welt zu sein, sondern dass er immer ein Geschlecht hatte, nein, ein Geschlecht war – ein Mann ODER eine Frau.” (de L’Horizon 2022: 57) Es ist ein Ausdruck des Leidens, das unter der erzwungenen Binarität entstehen kann, besonders wenn es scheinbar keinen anderen Weg gibt, um das eigene gender auszudrücken, als über den Körper.

Der Konflikt, der dadurch im erzählenden Ich entsteht, geht hin bis zur regelrechten Verachtung: „Ich schreibe dir, um gegen die Verachtung anzuschreiben, die ich für diesen Körper empfinde.“ (de L’Horizon 2022: 31f.) Immer wieder kommt Kim im Roman auf deren Verhältnis zur Männlichkeit zu sprechen, in die Kim von der Familie aber auch der Gesellschaft aufgrund von deren Körper gedrängt wird und recht schnell wird deutlich, dass es kein gutes ist. Die Verachtung, die hier angesprochen wird, kann als Genderdysphorie ausgelegt werden, die aufgrund von Genderinkongruenz entsteht. Das zeigt sich auch in folgendem Textbeleg:

Ich lernte an Grossmeers Füssen, dass Körperteile Wesen sind, die gegen einen arbeiten, die nicht dasselbe sind wie mensch selbst, die ein anderes Geschlecht haben, eine andere Spezies sein können. Und dass die Gefühle, die mensch dem Körper gegenüber hat, vielleicht im Körper anfangen, sich dann aber im ganzen Raum ausbreiten. (de L’Horizon 2022: 21)

Dysphorie ist mehr als nur ein leichtes Unbehagen, das daraus entstehende Leid hat Einfluss auf alle Bereiche des Lebens und hat nach dem ICD-11 Krankheitswert. Mensch ist also mit einem bestimmten Körper geboren, aber dieser Körper kann dem eigenen Empfinden widersprechen und das daraus entstehende Leid greift auf zahlreiche andere Bereiche des Lebens über, tritt also aus dem Körper heraus und geht weit darüber hinaus.

Trotzdem folgt Kim weiter einer der Kernthesen Judith Butlers. Eine von Butlers zentralen Thesen lautet, dass Geschlecht ein performativer Akt ist, dass Körper zwar als naturgegebene Sache angesehen werden, geschlechtliche Kategorien wie männlich oder weiblich aber kulturelle Aspekte sind, die allein durch performative Sprechakte materialisiert werden (vgl. Butler 1990: 25). Dem folgend versteht Kim Körper als ein Medium, eine Leinwand, mit der etwas bestimmtes ausgesagt werden kann (de L’Horizon 2022: 32). Körper sprechen eine eigene Sprache, die beängstigend, anziehend, und beengend sein kann, was für Kim einer der vielen Gründe ist, in der Literatur eine eigene Sprache zu suchen (de L’Horizon 2022: 57).

 

5. Abschließende Worte

Der Körper des Ichs wird als fließend, „In-Bewegung-Sein“ (de L’Horizon 2022: 57) beschrieben, eine Anspielung auf die genderfluide Identität, was sich auch unter anderem in der Struktur der Sätze wiederspiegelt. Kim versteht, dass wir der Macht der Körper nicht entkommen können, und gleichzeitig sucht dey nach einem Weg, eine Sprache für einen Körper wie deren zu finden. Zahlreiche formale und inhaltliche Aspekte des Romans spiegeln das wieder. Wir finden hier ein sehr zerfasertes Schreiben vor durch Parataxe, Hypotaxe, Ellipsen und Zeitsprünge ect. Blutbuch ist durch und durch nichtbinär erzählt. 

 

6. Quellen

  •  Butler, Judith (1990): Das Unbehagen der Geschlechter, 22. Auflage, Frankfurt a.M., Deutschland: Surhkamp.

  • de L’Horizon, Kim (2022): Blutbuch, 1. Auflage, Köln, Deutschland: Dumont.


[1] Bei meiner Recherche konnte ich leider keine eindeutige Aussage finden, welche Pronomen Kim de L’Horizon verwendet, habe aber gesehen, dass mitunter dey benutzt wird, um auf Kim zu verweisen. Wie dieses Neopronomen verwendet wird, siehe: https://nibi.space/pronomen

Falls euch meine Arbeit gefällt, würde ich mich über einen kleinen Obolus bei BMC freuen :)

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