Denn ich fresse nicht nur Jungfrauen!

Mittwoch, 6. September 2023

She Who Became The Sun (The Radiant Emperor #1) von Shelley Parker-Chan

Eventuell habe ich eine Schwäche für moralisch fragwürdige Charaktere, die vor nichts zurückschrecken, um ihr Ziel zu erreichen. Würze das ganze mit ein wenig gender fuckery und ich bin sowas von an Bord! Nach Iron Widow war es wohl abzusehen, dass ich She Who Became The Sun von Shelley Parker-Chan fast ebenso sehr lieben würde!

In einem abgelegenen Dorf in China um 1345 überlebt ein Mädchen in einer Hungersnot ihre gesamte Familie. Ihrem Bruder wurde Großartigkeit prophezeit, ihr jedoch Nichtigkeit. Als sie die letzte Überlebende ist, nimmt sie nicht nur den Namen ihres Bruders, Zhu Chongba, sondern auch seine Bestimmung zur Großartigkeit an. Damit beginnt ihr Weg von einem Mädchen ohne Bedeutung zur Begründerin der Ming Dynastie, die die Mongolen-Herrschaft der Yuan-Dynastie beenden soll.

Um nicht zu verhungern, tritt Zhu einem buddhistischen Kloster bei. Dort gibt sie sich als Junge Zhu Chongba aus, was der Beginn einer, wie ich finde, äußerst faszinierenden Betrachtungsweise von Gender zur Folge hat. Immer wieder wird im Laufe des Romans deutlich, dass Zhu sich nicht als Mädchen beziehungsweise später Frau sieht. Sie hat zwar den Körper einer Frau, den sie verstecken muss, lehnt für sich das Frausein aber wiederholt ab.

To resonate in likeness to a eunuch, whose substance was neither male nor female – it was nothing less than a reminder from the world itself what she tried so hard to deny: that she wasn’t made of the same pure male substance as Zhu Chongba. She had a different substance.
p. 52

Sie spricht selbst davon, als ob ihre Identität als Mönch etwas Drittes ist, das außerhalb des Binären von Mann und Frau steht. Das öffnet ihr im Roman immer wieder Möglichkeiten, die außerhalb der Möglichkeiten anderer Menschen stehen, einfach weil sie in der geschlechtlichen Binarität verankert sind.

Der hier bereits angesprochene Eunuch ist Ouyang, welcher als Kind von den Mongolenherrschern gefangen genommen und kastriert worden war als Strafe für den Verrat seines Vaters. Ouyang wuchs an der Seite Esen-Temurs auf, der Sohn des Prinzen von Henan und einer der führenden Mongolengeneräle, für welchen er die mongolischen Truppen in den Kampf gegen die Roter Turban Rebellen führt.

Ich persönlich vergöttere die Beziehung zwischen Esen und Ouyang! Beide haben sie Gefühle füreinander, die sie jedoch nicht ausleben können, sich teils nicht einmal eingestehen. Beide leben sie in einer extrem maskulinen Gesellschaft, die Maskulinität über alles stellt. Zwei Männer, die eine romantische Beziehung führen, passt dort nicht hinein. Hinzu kommt, dass Ouyang als in der Kindheit kastrierter Eunuch nie die typischen sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale ausgebildet hat. Er ist bartlos, seine Stimme ist sehr hoch und seine Gesichtszüge sehr weich. Immer wieder wird betont, dass er fraulich schön anzusehen ist. Ouyang verachtet sein Erscheinungsbild, weil es ihn sichtbar von den Männern um ihn herum absetzt.

Ein weiteres großes Thema für die Beziehung zwischen Ouyang und Esen ist einerseits ihr Schmachten nach dem jeweils anderen, das jedoch nie absolut direkt angesprochen wird, immer nur ganz geschickt gerade außerhalb des Expliziten. Auf der anderen Seite wird es jedoch von dem Fakt überschattet, dass es Esens Vater gewesen war, der Ouyangs gesamte Familie bis hin zur neunten Generation auslöschen ließ und Ouyang kastrierte. Ouyang wächst mit den Mongolen auf, die seine Familie ermordeten, gleichzeitig hat er tiefe Gefühle für ebenjenen Mongolen, dieser scheinbar unlösbare Zwiespalt ist einfach wunderbar und so perfekt ausgeführt!

Ouyang und Zhu stehen sich lange als Feinde gegenüber, sind aber beide durch ihr abweichendes soziales Geschlecht doch irgendwie miteinander verbunden. Immer wieder kommt zur Sprache, wie ein gewisses gegenseitiges Verständnis zwischen ihnen herrscht. Zhu ist von Ouyang fasziniert, schon seit dem Zeitpunkt, als Ouyang mit Esens Soldaten kam, um Zhus Tempel niederzubrennen. Ouyang ist Zhus erster Kontakt mit einem nichtbinären sozialen Geschlecht, das von der gesellschaftlichen Norm (lies: männlich) abweicht, ähnlich wie auch Zhus Maskulinität keine traditionelle Männlichkeit ist.

Der Roman spricht viele schwere Themen, die mitunter triggernd sein können, fokussiert sich dabei aber auf die Innensicht der Charaktere und ihr inneres Erleben, statt das Geschehen um sie herum. Einige sehr extreme Themen werden durch einen fade to black thematisiert. An einer Stelle wird ein Kind ermordet, dies wird jedoch nicht explizit ausgeschrieben, sondern nur in Retrospektive angesprochen. Auch Gewaltdarstellungen werden nicht zu detailliert geschildert, obgleich der Roman nicht ohne Blut und Gewalt auskommt.

Ich persönlich halte den Fokus auf die Innensicht der Charaktere für sehr gelungen. Shelley Parker-Chan gelingt es, extrem treffende Worte zu finden, um das Innenleben der Charaktere zu transportieren. Gerade Zhu Chongbas extrem starkes Verlangen nach etwas so selbst für sie zu Beginn Abstraktem wie Großartigkeit wird dadurch greifbar.

The silence felt fragile. Or perhaps it was she who was fragile, suspended in the pause, Every step was a test for her courage to be Zhu Chongba, and her desire for that great fate, I want it, she thought, and the force of her desire pumped her blood so strongly that it seemed a miracle that her nose didn’t bleed from it. The pressure grew, all but unbearable, crushing her fears and doubts smaller and hotter until they ignited into pure burning belief. I’m Zhu Chongba and greatness is my fate.
p. 121

Zhu Chongba ist ein Mensch, der absolut alles macht, um ihre Ziele zu erreichen. Weder ist sie sich zu fein, sich dafür selbst zu demütigen, noch schreckt sie davor zurück, mit ehemaligen Feinden zu kollaborieren, wenn diese eine Möglichkeit bieten, ihrem Ziel näher zu kommen. Und auf gar keinen Fall hat sie Hemmungen, andere Menschen dafür zu opfern. Und ich liebe einfach alles daran!

Der Roman enthält eine sapphische Beziehung zwischen Zhu und Ma sowie eine „es ist kompliziert“ mlm Beziehung zwischen Esen und Ouyan, die am besten mit „bromance mit sehr deutlichen homoerotischen Subtönen ganz knapp außerhalb der Reichweite der beiden“ beschrieben werden kann. Und überhaupt ist einfach alles an diesem Roman queer, allem voran die Genderreprepräsentation. Falls es noch nicht deutlich genug war: Das ist eine dicke Empfehlung! Wenn ihr Iron Widow mochtet, dann werdet ihr auch diesen Roman hier lieben (und umgekehrt).

Mögliche Trigger

- Tod von Tieren
- Blut
- Tod, Mord, Gewalt an Menschen
- Krieg
- Verstümmelungen
- Kindstod
- Hungersnot
- Queerfeindlichkeit, teils von Charakteren verinnerlicht

 

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Reiheninformation

Autor*in: Shelley Parker-Chan
Titel: She Who Became The Sun
Sprache: Englisch
Umschlagsillustration: Mel Four
Reihe: Band 1
Seiten: 411
Originalpreis: £9.99
Verlag: Pan Books
Genre: Historische Fantasy
ISBN: 978-1529043402
Erscheinungsjahr: 2021

 

Falls euch meine Arbeit gefällt, würde ich mich über einen kleinen Obolus bei BMC freuen :) 


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