Denn ich fresse nicht nur Jungfrauen!

Dienstag, 24. Juli 2018

Im Kopf der Protagonist*innen von »Opfermond«


Was wäre ein Buch ohne seine Helden? Allerdings sind Elea Brandt Held*innen in ihrem Roman »Opfermond« alles andere als der strahlende Held in schimmernder Rüstung. In meinem Beitrag zur Blogtour möchte ich mit euch einen Blick auf die beiden Hauptcharaktere Idra und Varek oder eher einen Blick in ihre Köpfe und ihre Psyche werfen und entdecke dabei so einige spannende Details.

Im Zuge der Blogtour zum Roman (die Facebook Veranstaltung findet ihr hier) konntet ihr bereits bei Elea etwas über Mythen und Legenden rund um den Blutmond erfahren, bei KeJas Blogbuch erfahrt ihr, wie die Mischung aus Fantasy und Thriller wirkt, bei Myna Kaltschnee ging es um Sekten in »Opfermond« und ich widme mich nun den beiden Hauptprotagonist*innen Idra und Varek. Opfermond lebt sehr stark von der Dynamik zwischen beiden und ihren starken Charakteren. Jeder von ihnen ist etwas Besonderes und belebt den Roman ungemein. Schauen wir uns einmal an, was das Innenleben der beiden uns so zu bieten haben. Lady’s first, fangen wir mit Idra an.

Idra ist eine einfache Hure, die sich im Sha-Quai, dem Elendsviertel von Ghor-el-Chras, durchschlägt. Dort ist sich jeder der nächste und Idra hat nur wenige Freunde. Eigentlich sind es nur der Freudenjunge Djarid und der Pfandleiher Maruq, die ihr in irgendeiner Weise nahestehen.

Wir lernen Idra kennen, wie sie soeben eine Leiche fleddert, die sie in einer Gasse findet – tatsächlich auch eine Schlüsselszene für den Roman. Leichenfledderei wird auch in Ghor-el-Chras nicht gern gesehen und Varek hat den einen oder anderen verächtlichen Blick für Idra über, als er davon erfährt. Für Idra ist das jedoch ein notwendiges Übel und zumindest diese moralische Grenze hat sie bereits überschritten. »Ein Mädchen muss eben sehen, wo es bleibt!« (S. 250), ist ihr Leitmotto.

Ihre ruppige, fast schon bärbeißige Art ist ihr Markenzeichen. »›Blödsinn!‹, fauchte sie. Eine ziemlich dürftige Entgegnung, doch mehr fiel ihr nicht ein. ›Das ist totaler Blödsinn!‹« (S. 214). Wie Varek korrekt feststellt (S. 364), ist das ihre Art, sich durch ihr Leben zu schlagen. Sie grenzt sich damit von dem Elend um sie herum ab, beißt alles weg, das ihr und ihrem moralischen Konzept gefährlich werden könnte, und schafft so einen Schutzmechanismus für sich selbst. Diese Abgrenzung ist für sie enorm wichtig, um sich das letzte bisschen Restwürde zu bewahren, das ihr noch geblieben ist. Damit bleibt immer noch etwas, bei dem sie sagen kann, dass sie noch nicht ganz unten angekommen ist, dass sie noch immer besser dran ist, als einige ganz arme Schweine.

Auch wenn sie mitten im Elend des Sha-Quai steckt und Teil desselben ist, hat sie eine Menge Verachtung für ihre Mitmenschen über. Sie sieht, wie sich alle gegenseitig immer weiter hinab reißen und das Elend mehren. Gleichzeitig sieht sie auch, dass die Menschen der reicheren Viertel alles dafür zu tun, das Elend im Sha-Quai zu halten und sich nicht darum scheren, wenn ihre Taten dazu führen, dass dieses Elend wächst. Idra hat sich trotz all der Entbehrungen, die sie erleiden musste, einen funktionierenden Verstand bewahrt, der ihr einen erstaunlich klaren Blick von außen auf ihre Situation ermöglicht, während sie gleichzeitig gut funktionierende Schutzmechanismen entwickeln konnte, um mit ihrer eigenen Lage klar zu kommen. Das heißt nicht, dass sie dem nicht entkommen will, im Gegenteil. Das heißt jedoch, dass sie daran nicht völlig kaputt ging und sich einen gesunden Kern bewahrte. Eine erstaunliche Leistung, die von einem sehr starken Charakter zeugt.

Auch wenn sich im Sha-Quai jeder der nächste ist, hat Idra durchaus zwei Personen, die ihr nahe stehen und für die sie eine Menge zu riskieren bereit ist. Sie ist also durchaus in der Lage, eine zwischenmenschliche, empathische Bindung einzugehen und hat diese grundmenschliche Eigenschaft nicht in den widrigen Bedingungen des Sha-Quai eingebüßt.

Gleichzeitig ist sie auch ausgesprochen mutig und wagt sich sogar in die Alte Stadt, ein Stadtteil von Ghor-el-Chras, der vor vielen Jahren niederbrannte und seitdem als verflucht gilt. Idra hat einen ausgesprochen starken Willen und große Entschlossenheit, das ist nicht zu bestreiten. Immerhin will sie als einfache Hure am Ende der Nahrungskette auf eigene Faust ihre Freunde rächen, obwohl objektiv gesehen die Chancen auf Erfolg sehr gering sind. Nicht aufzugeben, sich nicht klein kriegen zu lassen und zu kämpfen, hat sie jedoch schon früh lernen müssen. Sie ist ihrem Zuhälter auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und auch unter den Huren herrscht große Konkurrenz und Feindseligkeit, Verleumdungen sind an der Tagesordnung. Da muss ein Mädchen wirklich sehen, wo es bleibt, und lernen, um ihren Platz zu kämpfen und ihn zu verteidigen. Umso erstaunlicher und bemerkenswerter finde ich es daher, dass sie sich trotzdem noch Empathie und Bindungsfähigkeit bewahrt hat.

Idra ist eine erstaunliche Lebenskünstlerin, die selbst das Sha-Quai nicht bezwingen kann. Trotz allem hat sie ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Ihr wird stets vor Augen gehalten, dass sie immer noch auf der untersten Stufe der Nahrungskette von Ghor-el-Chras steht und nach ihr nur noch der absolute Bodensatz der Alten Stadt kommt, Kreaturen, die auch den letzten Rest ihrer Menschlichkeit verloren haben.

Umso verbissener hält sie an ihrer fest. Idras Sprache ist vulgär und zeugt von ihrer fehlenden Bildung. Trotzdem ist sie nicht dumm. Sie weiß zu überleben und sich durchzuschlagen und sie weiß, dass alles ihren Preis hat und sie jeden Vorteil nutzen muss, der sich ihr bietet – ein weiterer entscheidender Punkt für die Geschichte in »Opfermond«. Idra spielt nicht mit offenen Karten, weil sie weiß, dass ihre Informationen einen Wert haben. Hätte sie es getan, hätte sich die Handlung wesentlich eher aufgelöst, sie jedoch hätte deutlich Out of Character gehandelt. So jedoch ist es viel stimmiger und vor allem dynamischer. Eine der Hauptfreuden des Romans ist es zu sehen, wie sich die Charaktere entfalten und aufeinander reagieren.

Das ist also Idra, unsere kleine und bei weitem nicht so unscheinbare Straßenhure, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Kommen wir zu Varek, dem zweiten Part des Duos. Er ist ein Assassine, ein sogenannter Unbestechlicher, der im Namen des Blutigen Gottes von Ghor-el-Chras tötet. Er ist schon einige Jahre im Dienst und man erfährt schnell, dass er schon lange kein begeisterter Anhänger des Kultes ist, für den er arbeitet. Ganz im Gegenteil empfindet er eine gehörige Portion Verachtung für den Kult, für sich selbst und allgemein für so ziemlich jeden anderen Menschen. Darin ähnelt er sich also durchaus Idra. Bei ihm jedoch kommt eine Menge Selbsthass hinzu. Die Unbestechlichen werden von vielen als Abschaum angesehen, und Varek hat dieses Wort für sich selbst angenommen.

Doch auch er hat sich einen gesunden Kern bewahrt. Er ist kultiviert, achtet auf ein gepflegtes Äußeres und hält sein Heim, eine ansehnliche Stadtvilla, in Schuss. Er spricht mehrere Sprachen, da er durch seine Herkunft aus einer adeligen Familie eine gute Ausbildung genoss, und beherrscht damit auch den Umgang in gehobener Gesellschaft. Merkbar wird dieser Standesunterschied zu Idra auch in seiner Sprache, selten bis nie spricht er so vulgär sie wie oder nimmt Worte wie »Schwanz« oder »Titten« in den Mund.

Frauen sind Vareks Schwäche und seine Achillesferse. Er lässt sich leicht von ihnen verführen, und so gelingt es auch Idra anfangs geradezu spielend, ihn zu überlisten, obwohl er ein erfahrener und guter Auftragsmörder ist. Auch war eine Frau in die Angelegenheit verwickelt und spielte eine zentrale Rolle, die Varek in seine gegenwärtige Situation brachte und die das Trauma auslöste, an dem er bis zu diesem Zeitpunkt leidet: Er liebte einst eine Frau, die einem anderen anvertraut war. Um sie zu schützen, als die Affäre aufflog, log er und behauptete, sie geschändet zu haben, damit sie nicht gerichtet werde würde. Daraufhin verlor er seine Anstellung als Leibwächter und wurde zu einem Unbestechlichen.

Der seelische Schaden, den er davon trug, ist enorm. Er hat Angst vor dem Dunklen, eine ernstzunehmende Angststörung, die sich Achluophobie nennt. Er hat dabei ganz klassische Angstsymptome, bricht in Schweiß aus, zittert und leidet Todesfurcht, sobald er mit Dunkelheit konfrontiert wird. Außerdem leidet er an Schlafstörungen und kann nicht ohne bestimmte Sedativa einschlafen. Selbst tagsüber verfolgt ihn sein Gedankenkarussell und es bedarf nur eines Triggers, der ihn sofort wieder in sein Krankheitsmuster versetzt. Alles deutliche Zeichen, dass bei ihm ein Trauma vorliegt, das bis heute nicht aufgearbeitet wurde.

Wie bei Idra ist sein Selbstwertgefühl so gut wie nicht vorhanden und er klammert sich verbissen an das wenige, das ihm davon noch geblieben ist. Das jedoch verteidigt er mit Zorn und durchaus auch Brutalität. Wie bei Idra bleibt ihm damit noch ein letzter Rest, der ihn, den »Abschaum«, noch etwas besser macht als die da ganz unten. »Varek starrte ihr mit zusammengepresstem Kiefer hinterher. Was bildete sich dieses Weib eigentlich ein? Was er abseits seiner Aufträge tat, ging sie einen Dreck an. Er war keiner dieser irren Sharakis, die an nichts anderes mehr denken konnten als an ihr Rauschkraut. Er brauchte das Sharak, um für eine Weile vergessen zu können, wie verkommen sein Leben war. Für ein paar wenige, schöne Momente. Was verstand Nashiri schon davon?« (S. 153f.)

Der Beißreflex, den sowohl Idra als auch Varek an den Tag legen, wenn sie kritisiert oder mit etwas anderem konfrontiert werden, das ihr Weltbild und ihr Bild von sich selbst bedroht und in Frage stellen könnte, ist typisch für Menschen ohne Selbstwertgefühl. Sie brauchen Bestätigung von außen, um sich selbst bestätigt zu sehen, da sie diese Bestätigung nicht aus sich selbst heraus nehmen können. Eine Kritik ist für sie daher ein persönlicher Angriff, gegen den sie sich verteidigen müssen. Meist verbaler Art, doch gerade Varek wird auch einmal handgreiflich, wenn er sich mit seinem Bruder Askar prügelt. »Varek fuhr hoch. Zorn fegte jede Vernunft hinweg. Seine Hand schnellte nach vorne, umklammerte Askars Arm, zerrte ihn zu sich. ›So redest du nicht über sie!‹« (S. 110) Vareks einstige Geliebte als Hure zu bezeichnen und von ihm zu behaupten, dass er mit seiner Tat seine Familie besudelte, ist einer von Vareks deutlichsten und stärksten Triggern, die ihn in sein Krankheitsmuster versetzen. Damit wird sowohl die Frau angegriffen, die er immer noch liebt (oder eher das idealisierte Bild, das er von ihr hat), als auch er selbst und vor allem das, an das er sich klammert, um sich von der untersten Schicht Dreck der Gesellschaft abzugrenzen, um sich seine Würde zu wahren.

Mittlerweile hat der Beitrag über tausendsechshundert Worte, was, wie ich finde, ausgesprochen gut zeigt, wie viel Tiefe in den Charakteren von »Opfermond« steckt. Sie sind keineswegs die klassischen strahlenden Helden, sondern menschliche Wracks, die in ihrem Leben schon viel erleiden mussten und deren Psyche davon nachhaltig geprägt wurde. Mich beeindruckte das schon beim ersten Lesen sehr. Doch auch jetzt, wo ich das Buch für diesen Beitrag noch einmal genau unter die Lupe nahm, haut mich das immer noch um. Eine der herausragendsten positiven Eigenschaften von »Opfermond« sind auf jeden Fall seine beiden Antihelden Idra und Varek, die ich euch damit hoffentlich ein wenig näher hatte bringen können.

Noch ein wenig mehr zu den Charakteren findet ihr in diesem Video.



Die Beiträge zur Bloggerwoche

23.07. Sekten in „Opfermond“ | Myna Kaltschnee
24.07. Analyse der Hauptfiguren | Der Buchdrache
25.07. Lieblingsstellen | Team Buchmagie
26.07. Role play(ing) Game (RPG) | Nerds gegen Stephan
27.07. Live-Lesung mit Gewinn (18:00 Uhr)

1 Kommentar:

  1. Klingt auf jeden fall mega spannend und doch hoffe ich mich auf Dauer mit den ganzen "seltsamen" Namen anfreunden zu können! ;-) LG Jenny

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