Was wäre ein Buch ohne seine Helden? Allerdings sind Elea
Brandt Held*innen in ihrem Roman »Opfermond« alles andere als der strahlende
Held in schimmernder Rüstung. In meinem Beitrag zur Blogtour möchte ich mit
euch einen Blick auf die beiden Hauptcharaktere Idra und Varek oder eher einen
Blick in ihre Köpfe und ihre Psyche werfen und entdecke dabei so einige
spannende Details.
Im Zuge der Blogtour zum Roman (die Facebook Veranstaltung
findet ihr hier)
konntet ihr bereits bei Elea etwas über Mythen und Legenden rund um den Blutmond erfahren, bei KeJas Blogbuch erfahrt ihr, wie die Mischung aus Fantasy und Thriller wirkt, bei Myna Kaltschnee ging es um Sekten in »Opfermond« und ich
widme mich nun den beiden Hauptprotagonist*innen Idra und Varek. Opfermond lebt
sehr stark von der Dynamik zwischen beiden und ihren starken Charakteren. Jeder
von ihnen ist etwas Besonderes und belebt den Roman ungemein. Schauen wir uns
einmal an, was das Innenleben der beiden uns so zu bieten haben. Lady’s first,
fangen wir mit Idra an.
Wir lernen Idra kennen, wie sie soeben eine Leiche fleddert,
die sie in einer Gasse findet – tatsächlich auch eine Schlüsselszene für den
Roman. Leichenfledderei wird auch in Ghor-el-Chras nicht gern gesehen und Varek
hat den einen oder anderen verächtlichen Blick für Idra über, als er davon
erfährt. Für Idra ist das jedoch ein notwendiges Übel und zumindest diese
moralische Grenze hat sie bereits überschritten. »Ein Mädchen muss eben sehen,
wo es bleibt!« (S. 250), ist ihr Leitmotto.
Ihre ruppige, fast schon bärbeißige Art ist ihr
Markenzeichen. »›Blödsinn!‹, fauchte sie. Eine ziemlich dürftige Entgegnung,
doch mehr fiel ihr nicht ein. ›Das ist totaler Blödsinn!‹« (S. 214). Wie Varek
korrekt feststellt (S. 364), ist das ihre Art, sich durch ihr Leben zu
schlagen. Sie grenzt sich damit von dem Elend um sie herum ab, beißt alles weg,
das ihr und ihrem moralischen Konzept gefährlich werden könnte, und schafft so
einen Schutzmechanismus für sich selbst. Diese Abgrenzung ist für sie enorm
wichtig, um sich das letzte bisschen Restwürde zu bewahren, das ihr noch
geblieben ist. Damit bleibt immer noch etwas, bei dem sie sagen kann, dass sie
noch nicht ganz unten angekommen ist, dass sie noch immer besser dran ist, als
einige ganz arme Schweine.
Auch wenn sie mitten im Elend des Sha-Quai steckt und Teil
desselben ist, hat sie eine Menge Verachtung für ihre Mitmenschen über. Sie
sieht, wie sich alle gegenseitig immer weiter hinab reißen und das Elend
mehren. Gleichzeitig sieht sie auch, dass die Menschen der reicheren Viertel
alles dafür zu tun, das Elend im Sha-Quai zu halten und sich nicht darum
scheren, wenn ihre Taten dazu führen, dass dieses Elend wächst. Idra hat sich
trotz all der Entbehrungen, die sie erleiden musste, einen funktionierenden
Verstand bewahrt, der ihr einen erstaunlich klaren Blick von außen auf ihre
Situation ermöglicht, während sie gleichzeitig gut funktionierende
Schutzmechanismen entwickeln konnte, um mit ihrer eigenen Lage klar zu kommen.
Das heißt nicht, dass sie dem nicht entkommen will, im Gegenteil. Das heißt
jedoch, dass sie daran nicht völlig kaputt ging und sich einen gesunden Kern
bewahrte. Eine erstaunliche Leistung, die von einem sehr starken Charakter zeugt.
Auch wenn sich im Sha-Quai jeder der nächste ist, hat Idra
durchaus zwei Personen, die ihr nahe stehen und für die sie eine Menge zu
riskieren bereit ist. Sie ist also durchaus in der Lage, eine
zwischenmenschliche, empathische Bindung einzugehen und hat diese grundmenschliche
Eigenschaft nicht in den widrigen Bedingungen des Sha-Quai eingebüßt.
Gleichzeitig ist sie auch ausgesprochen mutig und wagt sich
sogar in die Alte Stadt, ein Stadtteil von Ghor-el-Chras, der vor vielen Jahren
niederbrannte und seitdem als verflucht gilt. Idra hat einen ausgesprochen
starken Willen und große Entschlossenheit, das ist nicht zu bestreiten.
Immerhin will sie als einfache Hure am Ende der Nahrungskette auf eigene Faust
ihre Freunde rächen, obwohl objektiv gesehen die Chancen auf Erfolg sehr gering
sind. Nicht aufzugeben, sich nicht klein kriegen zu lassen und zu kämpfen, hat
sie jedoch schon früh lernen müssen. Sie ist ihrem Zuhälter auf Gedeih und
Verderb ausgeliefert und auch unter den Huren herrscht große Konkurrenz und
Feindseligkeit, Verleumdungen sind an der Tagesordnung. Da muss ein Mädchen
wirklich sehen, wo es bleibt, und lernen, um ihren Platz zu kämpfen und ihn zu
verteidigen. Umso erstaunlicher und bemerkenswerter finde ich es daher, dass
sie sich trotzdem noch Empathie und Bindungsfähigkeit bewahrt hat.
Idra ist eine erstaunliche Lebenskünstlerin, die selbst das
Sha-Quai nicht bezwingen kann. Trotz allem hat sie ein sehr geringes
Selbstwertgefühl. Ihr wird stets vor Augen gehalten, dass sie immer noch auf
der untersten Stufe der Nahrungskette von Ghor-el-Chras steht und nach ihr nur
noch der absolute Bodensatz der Alten Stadt kommt, Kreaturen, die auch den
letzten Rest ihrer Menschlichkeit verloren haben.
Umso verbissener hält sie an ihrer fest. Idras Sprache ist
vulgär und zeugt von ihrer fehlenden Bildung. Trotzdem ist sie nicht dumm. Sie
weiß zu überleben und sich durchzuschlagen und sie weiß, dass alles ihren Preis
hat und sie jeden Vorteil nutzen muss, der sich ihr bietet – ein weiterer
entscheidender Punkt für die Geschichte in »Opfermond«. Idra spielt nicht mit
offenen Karten, weil sie weiß, dass ihre Informationen einen Wert haben. Hätte
sie es getan, hätte sich die Handlung wesentlich eher aufgelöst, sie jedoch
hätte deutlich Out of Character gehandelt. So jedoch ist es viel stimmiger und
vor allem dynamischer. Eine der Hauptfreuden des Romans ist es zu sehen, wie
sich die Charaktere entfalten und aufeinander reagieren.
Das ist also Idra, unsere kleine und bei weitem nicht so
unscheinbare Straßenhure, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Kommen wir zu
Varek, dem zweiten Part des Duos. Er ist ein Assassine, ein sogenannter
Unbestechlicher, der im Namen des Blutigen Gottes von Ghor-el-Chras tötet. Er
ist schon einige Jahre im Dienst und man erfährt schnell, dass er schon lange
kein begeisterter Anhänger des Kultes ist, für den er arbeitet. Ganz im
Gegenteil empfindet er eine gehörige Portion Verachtung für den Kult, für sich
selbst und allgemein für so ziemlich jeden anderen Menschen. Darin ähnelt er
sich also durchaus Idra. Bei ihm jedoch kommt eine Menge Selbsthass hinzu. Die
Unbestechlichen werden von vielen als Abschaum angesehen, und Varek hat dieses
Wort für sich selbst angenommen.
Doch auch er hat sich einen gesunden Kern bewahrt. Er ist
kultiviert, achtet auf ein gepflegtes Äußeres und hält sein Heim, eine
ansehnliche Stadtvilla, in Schuss. Er spricht mehrere Sprachen, da er durch
seine Herkunft aus einer adeligen Familie eine gute Ausbildung genoss, und
beherrscht damit auch den Umgang in gehobener Gesellschaft. Merkbar wird dieser
Standesunterschied zu Idra auch in seiner Sprache, selten bis nie spricht er so
vulgär sie wie oder nimmt Worte wie »Schwanz« oder »Titten« in den Mund.
Frauen sind Vareks Schwäche und seine Achillesferse. Er
lässt sich leicht von ihnen verführen, und so gelingt es auch Idra anfangs
geradezu spielend, ihn zu überlisten, obwohl er ein erfahrener und guter
Auftragsmörder ist. Auch war eine Frau in die Angelegenheit verwickelt und
spielte eine zentrale Rolle, die Varek in seine gegenwärtige Situation brachte
und die das Trauma auslöste, an dem er bis zu diesem Zeitpunkt leidet: Er
liebte einst eine Frau, die einem anderen anvertraut war. Um sie zu schützen,
als die Affäre aufflog, log er und behauptete, sie geschändet zu haben, damit sie
nicht gerichtet werde würde. Daraufhin verlor er seine Anstellung als
Leibwächter und wurde zu einem Unbestechlichen.
Der seelische Schaden, den er davon trug, ist enorm. Er hat
Angst vor dem Dunklen, eine ernstzunehmende Angststörung, die sich Achluophobie
nennt. Er hat dabei ganz klassische Angstsymptome, bricht in Schweiß aus,
zittert und leidet Todesfurcht, sobald er mit Dunkelheit konfrontiert wird.
Außerdem leidet er an Schlafstörungen und kann nicht ohne bestimmte Sedativa
einschlafen. Selbst tagsüber verfolgt ihn sein Gedankenkarussell und es bedarf
nur eines Triggers, der ihn sofort wieder in sein Krankheitsmuster versetzt.
Alles deutliche Zeichen, dass bei ihm ein Trauma vorliegt, das bis heute nicht
aufgearbeitet wurde.
Wie bei Idra ist sein Selbstwertgefühl so gut wie nicht
vorhanden und er klammert sich verbissen an das wenige, das ihm davon noch
geblieben ist. Das jedoch verteidigt er mit Zorn und durchaus auch Brutalität.
Wie bei Idra bleibt ihm damit noch ein letzter Rest, der ihn, den »Abschaum«,
noch etwas besser macht als die da ganz unten. »Varek starrte ihr mit
zusammengepresstem Kiefer hinterher. Was bildete sich dieses Weib eigentlich
ein? Was er abseits seiner Aufträge tat, ging sie einen Dreck an. Er war keiner
dieser irren Sharakis, die an nichts anderes mehr denken konnten als an ihr
Rauschkraut. Er brauchte das Sharak, um für eine Weile vergessen zu können, wie
verkommen sein Leben war. Für ein paar wenige, schöne Momente. Was verstand
Nashiri schon davon?« (S. 153f.)
Der Beißreflex, den sowohl Idra als auch Varek an den Tag
legen, wenn sie kritisiert oder mit etwas anderem konfrontiert werden, das ihr
Weltbild und ihr Bild von sich selbst bedroht und in Frage stellen könnte, ist
typisch für Menschen ohne Selbstwertgefühl. Sie brauchen Bestätigung von außen,
um sich selbst bestätigt zu sehen, da sie diese Bestätigung nicht aus sich
selbst heraus nehmen können. Eine Kritik ist für sie daher ein persönlicher
Angriff, gegen den sie sich verteidigen müssen. Meist verbaler Art, doch gerade
Varek wird auch einmal handgreiflich, wenn er sich mit seinem Bruder Askar
prügelt. »Varek fuhr hoch. Zorn fegte jede Vernunft hinweg. Seine Hand
schnellte nach vorne, umklammerte Askars Arm, zerrte ihn zu sich. ›So redest du
nicht über sie!‹« (S. 110) Vareks einstige Geliebte als Hure zu bezeichnen und
von ihm zu behaupten, dass er mit seiner Tat seine Familie besudelte, ist einer
von Vareks deutlichsten und stärksten Triggern, die ihn in sein
Krankheitsmuster versetzen. Damit wird sowohl die Frau angegriffen, die er
immer noch liebt (oder eher das idealisierte Bild, das er von ihr hat), als
auch er selbst und vor allem das, an das er sich klammert, um sich von der
untersten Schicht Dreck der Gesellschaft abzugrenzen, um sich seine Würde zu wahren.
Mittlerweile hat der Beitrag über tausendsechshundert Worte,
was, wie ich finde, ausgesprochen gut zeigt, wie viel Tiefe in den Charakteren
von »Opfermond« steckt. Sie sind keineswegs die klassischen strahlenden Helden,
sondern menschliche Wracks, die in ihrem Leben schon viel erleiden mussten und
deren Psyche davon nachhaltig geprägt wurde. Mich beeindruckte das schon beim
ersten Lesen sehr. Doch auch jetzt, wo ich das Buch für diesen Beitrag noch
einmal genau unter die Lupe nahm, haut mich das immer noch um. Eine der
herausragendsten positiven Eigenschaften von »Opfermond« sind auf jeden Fall
seine beiden Antihelden Idra und Varek, die ich euch damit hoffentlich ein
wenig näher hatte bringen können.
Noch ein wenig mehr zu den Charakteren findet ihr in diesem
Video.
Die Beiträge zur Bloggerwoche
21.07. Mondfinsternis als spirituelles Ereignis in Mythen und Literatur | Elea Brandt
22.07. Blut- und Opfermond, wenn Fiktion auf Realität trifft | KeJas-BlogBuch
24.07. Analyse der Hauptfiguren | Der Buchdrache
25.07. Lieblingsstellen | Team Buchmagie
26.07. Role play(ing) Game (RPG) | Nerds gegen Stephan
27.07. Live-Lesung mit Gewinn (18:00 Uhr)
Klingt auf jeden fall mega spannend und doch hoffe ich mich auf Dauer mit den ganzen "seltsamen" Namen anfreunden zu können! ;-) LG Jenny
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