Die Vorstellung ist entsetzlich: jahrelang in einem Verlies
gefangen gehalten zu werden, ohne Kontakt zur Außenwelt und mit mehrfachem
Missbrauch durch den Entführer und Peiniger. In „Raum“ erzählt Emma Donoghue
die Geschichte des fünfjährigen Jack, dessen gesamte Welt aus Raum, seiner
Mutter und seinen Freunden im Fernseher besteht.
Jack kennt nichts anderes als Raum. Raum besteht aus Tisch,
Kommode, Zudeck, Fernseher und wenigen anderen lebendnotwendigen Einrichtungen.
Durch Oberlicht kommt Licht aus dem Weltall in Raum, aber Jack weiß: Es gibt nur
Raum und Weltall jenseits davon, und alles was er im Fernseher sieht, ist „nur
Fernseher“, das heißt nicht echt. Gelegentlich kommt Old Nick, dann muss er
sich in Kommode verstecken. Old Nick bringt Essen und Kleidung und gelegentlich
ein Sonntagsgutti, doch ob Old Nick in echt oder nur Fernseher ist, weiß Jack nicht
so genau. Als seine Ma zu seinem fünften Geburtstag Jack zu erklären versucht,
dass es mehr gibt als nur Raum, beginnt für Jack sein vielleicht größtes
Abenteuer: die Welt.
Der vielleicht genialste Kniff dieses Romans ist seine
Erzählperspektive: Der Leser erlebt die Geschichte aus den Augen eines Fünfjährigen,
der in seinem ganzen Leben noch nie Kontakt zur Außenwelt hatte, ja, für den
das Konzept einer Außenwelt so ungeheuerlich ist, dass er es zunächst gar nicht
begreifen kann und als dumme, langweilige Geschichte seiner Ma abtut. Hinzu kommt
das Tempus: Der Roman ist auf höchst subtile Art und Weise im Präsens erzählt;
Kinder leben nun einmal im Hier und Jetzt.
Noch einmal die Welt durch die Augen eines Kindes zu
erleben, wünscht sich wahrscheinlich so manch ein Erwachsener. Die absolut
überzeugende Sicht dieses Kindes jedoch ist etwas, das mit Sicherheit niemand
so schnell vergisst. Sie geht unter die Haut und berührt den Leser im
Innersten, verängstigt und verstört vielleicht auch ein bisschen. In jedem Fall
jedoch arbeitet sie noch lange nach Beenden des Buches in einem.
Es gibt Bücher, bei denen man mal hier ein paar Kapitel
liest, mal da ein paar. „Raum“ hingegen kann man nicht mehr aus der Hand legen,
hat man einmal angefangen. Es saugt einen förmlich in die Geschichte, ist
vielleicht auch ein wenig voyeuristisch veranlagt.
Ein bemerkenswertes Detail der Geschichte ist auch, dass
Jack viele Dinge, die er nur ein einziges Mal in seinem Leben kennt, ohne
Artikel benennt. Er sagt nicht „der Raum“, sondern einfach nur „Raum“, als sei
dies ein Eigenname für ein absolut einmaliges Ding, wie es auch jeden Menschen
nur ein einziges Mal auf der Welt gibt. Es sind diese Details, die die
Erzählung so unheimlich faszinierend machen.
Jack versteht vieles nicht. Zum Beispiel auch nicht, dass
seine Mutter unglaublich verzweifelt ist und unbedingt fliehen will. Dazu ist
sie sogar bereit ihr eigenes Kind in Gefahr zu bringen, obgleich sie es
gleichzeitig um jeden Preis vor Old Nick beschützen will. Jack versteht auch
nicht beziehungsweise es kommt ihm gar nicht in den Sinn, dass seine Mutter
eine wesentlich negativere Beziehung zu Raum hat als er selbst. Das leuchtet
natürlich ein, er kannte immerhin sein Leben lang nichts anderes und weiß
nicht, was er alles verpasst hat.
Der Roman ist weniger eine Geschichte über die
Gefangenschaft, als vielmehr die Beziehung von Mutter und Kind, deren ganze
Welt sich umeinander dreht, als auch die Eingliederung eines Jungen in die
Gesellschaft, der keinen anderen Menschen kennt als sich, seine Mutter und den
Entführer, bei dem er sich nicht einmal sicher ist, ob er echt sei. Jack schnappt
nur nebenher einige Brocken der Ärzte auf, die für ihn keine Bedeutung haben,
durch die der Leser aber einen Blick auch von außen auf die Situation erhaschen
kann.
„Raum“ ist ein Roman, der einen auch nach dem Zuklappen der
Buchdeckel so schnell nicht wieder loslässt. Seine Erzählperspektive macht ihn
zu einem ungewöhnlichen und faszinierenden Roman, der in jedem Fall eine Empfehlung
ist.
Daten
Raum, Orig. Room: ISBN 978-3-492-05466-9,
Piper, 2011, 19,99€Weitere Rezensionen
- Stehlblüten
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